Sag mir wo die Blumen sind...

von Marius Barbu


Es sind fast zwei Jahre her, da habe ich Sie, liebe Leserin, lieber Leser, angeregt durch Tibi Bellaks Gedicht, mitgenommen auf meine imaginäre Wanderung zu Orten, die jedem Reschitzaer vertraut sein dürften. Sie hat uns vom Triglovetz ins Sodoler Tal geführt und von der Minda zur Stavilaer Brücke. Heute lade ich Sie ein, mich auf meinem Spaziergang durch Alt-Reschitz zu begleiten. Manches hat sich im Laufe der Jahre in der ,,Hauptgass'n" verändert. Umbenannt in str. General Dragalina nach dem Ersten Weltkrieg, wurde sie nach dem Zweiten Weltkrieg str. Castanilor genannt, ein Name, der wie ich finde, zur Straße meiner Kindheit vortrefflich paßte. Doch wer die Straße früher nicht kannte, der dürfte sich heute über den Straßennamen wundern, denn die Straße hat nicht mehr, was ihr einst den Namen gegeben hat, die alten prächtigen Kastanienbäume. Von der ,,Feuerwehr" bis zum ,,Arbeiterheim" säumten sie die Straße und machten aus der Kleinstadtgasse eine richtige Allee. Die dichtbelaubten, riesigen Kronen der Bäume spendeten kühlenden Schatten an heißen Sommertagen, und wer im Mai die Allee entlang spazierte, wurde betäubt vom Duft der Kastanienblüten, ein Duft, köstlicher als alle Düfte der berühmten Parfümhersteller. Weiß, rosa und cremefarben leuchteten die Blütenkerzen zwischen dem noch zarten sprießenden Grün der Blätter Versetzt mich die Phantasie in die Kastanienstraße, ist mir als wandelte ich durch den Blütengarten einer Traumwelt. Einst aber war sie Teil einer realen Welt, einer Welt, in der sich zwischen den eingeschossigen Häusern der Werksangestellten kleine Läden befanden, deren Angebot den alltäglichen Bedürfnissen ihrer Kundschaft entsprach. Mehl, Zucker, Salz, Schuhbandl oder Stopfwolle und vieles mehr - auch schon mal Bonbons für die Kinder - kaufte man beim Schmidt, Schwarz, Beck oder Dumitru, Brot, Kipfel und Semmeln bei der Spiller Neni oder beim Drexler und die Wurst fürs Frühstücks-, Jausen- oder Abendbrot beim Neff oder Mowatz. Die Kinder des Viertels besuchten die Betonschule, einen wuchtigen, zweigeschossigen Bau aus dem vorigen Jahrhundert an der Ecke zur Parkstraße. Und wer sein Haus weißeln wollte, kaufte den Kalk etwas unterhalb beim Lengyel. Wer es sich leisten konnte, ließ sich vom Timpea einen Anzug schneidern. Und beim Biegler bekam man alles, was in eine gut sortierte Eisenwarenhandlung gehörte, vom Nagel bis zum Fahrrad. Beim Poveanu oder beim Horvath kehrte so mancher auf ein Stampel Schnaps oder ein Glas Bier ein (mitunter wurden es auch mehrere). In der schönen Jahreszeit saß man abends im Sommergarten bei einem Glas Wein, eine Musikkapelle spielte und lockte so manches Pärchen auf die Tanzfläche. Nicht zu vergessen die ,,Munca", gegründet von der Konsumgenossenschaft, war sie der Laden, in dem die Familien der Werks-angehörigen ihre monatliche ,,Fassung" an Grundnahrungsmitteln holten. In diesem Mikrokosmos kannte man einander. Welcher Nationalität oder sozialen Schicht einer angehörte, war im Umgang miteinander nicht wichtig. Wichtig war, daß man einander vertrauen konnte. Hatte ein Kunde mal kein Geld, schrieb der Händler an, und der Kunde konnte die benötigte Ware mitnehmen, auch ohne sie sofort zu bezahlen, denn der Händler konnte sich darauf verlassen, daß er sein Geld bekam, wenn im Werk ,,Vorschuß" oder ,,Löhnung" ausbezahlt wurde.
Heute sind nicht nur die Kastanienbäume verschwunden, an die ich mich noch gut erinnere, längst verschwunden ist auch jene Welt der Zwischenkriegszeit, die ich nur vom Hören-Sagen kenne. War es eine idyllische Welt? Gewiß nicht. Aber es war eine Welt, die Raum ließ für Eigeninitiative, für persönliche Freiheit, eine Welt, in welcher der Staat sich nicht in alle Lebensbereiche einmischte. Und ich frage mich manchmal, wie es uns wohl heute erginge, wäre diese Welt nicht, politisch gewollt, zerstört worden. Wir sind beim Arbeiterheim angelangt. Vielleicht kehren wir während eines nächsten Spazierganges in der Konditorei Niederkorn ein und essen die Mehlspeis', deren Rezept vielleicht einst einer unserer Vorfahren aus der Steiermark mitgebracht hat: einen Ischler.
 

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