Am 9. Januar wäre Alexander Tietz 100 Jahre alt geworden.
Der dies sagte, war Schulmann mit ,,es" meinte er das Wirken des Lehrers,
das man nicht wägen, nicht messen kann, das aber seine Spuren in den
Seelen und Köpfen seiner Schüler hinterläßt. Alexander
Tietz war Lehrer. Von 1920 - 1959 hat er in Reschitz unterrichtet, bedingt
durch den Wandel der Zeiten an unterschiedlichen Schulen, auch an rumänischen,
aber überwiegend an deutschen. Viele der zwischen 1905 und 1945 geborenen
Reschitzaer waren seine Schüler. Am 9. Jänner war sein 100. Geburtstag,
ein Anlaß, nach Spuren zu suchen, die sein Wirken hinterlassen hat.
Noch leben viele seiner einstigen Schüler, noch werden im Gedenken
an ihn ganz persönliche Erinnerungen lebendig, in manchem unterschiedlich,
doch in vielem ähnlich. In diesen Erinnerungen ist Professor Tietz
nicht nur, ja nicht einmal in erster Reihe der Volkskundler, den die meisten
Artikel würdigen, die aus verschiedenen Anlässen in der Presse
über ihn erschienen sind. In der Erinnerung jener, die ihn persönlich
gekannt haben, ist er ihr einstiger Lehrer, der viele von uns nachhaltig
geprägt hat. Sein Unterricht war eher unkonventionell, was Vor- und
Nachteile hatte. Wohl jeder seiner Schüler dürfte sich an den
Lehrer erinnern, hinter dessen Rücken wir nicht gerade die bravsten
waren, wenn er an der Tafel zeichnete, was er gerne und oft tat. Das Raunen
im Raum schien ihn nicht zu stören. Nur wenn ihm unser Treiben zu
bunt wurde, konnte der für gewöhnlich ruhige Mann schon mal die
Beherrschung verlieren. Da viele in unserer Mittelstufenklasse noch Schwierigkeiten
mit der Großschreibung hatten (Wir hatten alle, zeitbedingt, eine
rumänische Grundschule besucht.) versuchte er das Problem mittels
Strichmännchen zu lösen: ein kleiner (gemeint war der Artikel)
ging, ein Glöckchen in der Strich-hand schwingend, einem großen,
dicken, voran. Die Größe des zweiten sowie Spazierstock und
Zylinderhut machten ihn als wichtig, als das groß zu schreibende
Hauptwort kenntlich. Das sah lustig aus, und das war wohl auch der Grund,
warum ich mir die Zeichnung gemerkt habe. In den Deutschstunden las er
uns oft und gerne vor. Das war meistens spannend und oft genug auch nachhaltig
beeindruckend. An vieles kann ich mich heute noch erinnern. Jahre nach
unserer Schulzeit traf ich einen damaligen Klassenkollegen auf einem Ausflug
in der Prolas. ,,Erinnerst du dich noch, wie der Tietz uns den ,Erlkönig'
vorgelesen hat?" fragte er mich. ,,Dem Vater graust' s, er reitet geschwind...Er
kannte die Verse immer noch. ,,Kalte Schauer hat's mir über den Rücken
gejagt, damals", sagte er. Nein, der Kollege war nicht Deutschlehrer geworden,
er war Eisendreher in der Fabrik, ein sehr guter, wie ich später hörte.
Und
doch ist ihm Goethes Gedicht aus der Deutschstunde mit Prof. Tietz
unvergeßlich geblieben.
Die Prolas! Ein Ausflug mit Prof. Tietz führte mich zum erstenmal
hin. Wie oft danach? Ich weiß es nicht mehr. Aber ich weiß
noch genau, daß Prof. Tietz uns beigebracht hat, wie man einen Rucksack
richtig packt, übrigens auch mit Hilfe einer Zeichnung. Einmal machten
wir uns erst abends auf den Weg von der Prolas, weil die Hitze den Aufstieg
tagsüber zu beschwerlich gemacht hätte. Als wir die Bergkuppe
erreichten, war es bereits dunkel. Über uns der sternenübersäte
Nachthimmel. Prof. Tietz zeigte uns den Großen Wagen und den Kleinen
Wagen, den Polarstern und die Milchstraße, Sterne und Planeten...
und wir standen still und staunend unter der himmlischen Pracht.
Oder die Singwoche in Franzdorf mitte der 50er Jahre. Vor der kleinen
Kapelle in der Crivaia sangen wir den Kanon ,,Abendstille überall...“
und uns wurde feierlich zumute. Auf dem Rückweg ins Dorf schmetterten
wir ,,Buona nox, bist a rechta Ochs...", auch ein Kanon, von Mozart, dem
Sauschwanz Amadé Rosenkranz, wie er einen Brief ans ,,Bäsle
Häsle" unterschrieben hatte, was wir von Prof. Tietz wußten,
hatte er uns doch mehr als einen der köstlichen Briefe des jungen
Mozart vorgelesen. Mozart war sein Lieblingskomponist. Mit dem Wandervogel
hatte er einst ,,Bastien und Bastienne" einstudiert und aufgeführt.
Mein Vater war als junger Mann dabei, noch viele Jahre später erzählte
er uns begeistert davon. Ich erinnere mich an eine Gedenkfeier für
das frühverstorbene Genie, eine Collage aus Musik von Mozart und Texten
von Tietz, als Rollenspiel gesprochen. Er hat uns über die Brücke
geführt, die Mozarts Musik mit seinem Leben verbindet. Ich glaube,
das war ihm wichtig, uns den Menschen hinter dem Musiker nahezubringen.
Seine Bibliothek! Wie viele von uns mögen sich mit seinen wertvollen
Büchern eine Welt erschlossen haben?! Wir durften ihn zu Hause besuchen,
uns Bücher aus den Regalen heraussuchen, darin blättern, sie
ausleihen, Bücher, die aus den Buchhandlungen und Büchereien
längst verschwunden waren.
Von der Welt jenseits des Eisernen Vorhangs erfuhren wir in den 50er
Jahren offiziell so gut wie nichts, und wenn, dann nur Negatives. Prof.
Tietz aber erzählte uns von den Salzburger Festspielen, von der Aufführung
des ,,Faust" in der Felsenreitschule und der des ,,Jedermann" auf den Treppen
des Doms. Als ich viele Jahre später zum erstenmal nach Salzburg kam,
war mir manches aus dem Bildband von Prof. Tietz so bekannt, als wäre
ich schon mal da gewesen.
Er war ein Schöngeist, hatte ein ausgeprägtes Stilgefühl,
das den von ihm bewohnten Räumen etwas Besonderes verlieh. Es war
immer auch die Atmosphäre dieser Räume, die auf den Besucher
wirkte. Da war z.B. die kleine Ferienwohnung im Franzdorfer Elternhaus
seiner Frau Stela. Sie war einfach eingerichtet, aber stilvoll rustikal.
In der Wohnstube Tisch und Bänke aus hellem Holz, an der weißen
Wand ein Bord mit bunten Tellern und Krügen, ein kleines Regal mit
Büchern, unter anderen von Ludwig Thoma, der Erzbayer paßte
in dieses Haus, in diese Landschaft.
Aber es war nicht nur die Liebe zur Banater Berglandheimat, zur Natur,
- er war damals schon Naturschützer, denn keinerlei Müll durften
wir auf unseren Rastplätzen zurücklassen, - nicht nur das Interesse
für Literatur und Musik, der Sinn für alles Schöne, die
er in seinen Schülern weckte und förderte, es war mehr. Er war
ein hochgebildeter Mann und lebte geistig gewiß in einer anderen
Welt als die sogenannten einfachen Leute, deren Kinder seine Schüler
waren. Doch er hat sich nie über diese Leute gestellt. Er schätzte
diese Leute, ihr fachliches Können, ihre Lebenserfahrung, ihre Begabungen,
auch ihre Schlitzohrigkeit. Er sprach mit Achtung von all den Menschen,
deren Geschichten er als Volkskundler aufgezeichnet hat. Die Waldarbeiterwitwe
Johanna Valentin in Franzdorf beeindruckte ihn nachhaltig. Über sie
schrieb er:
,,Eine der gescheitesten Frauen, der ich begegnet bin, war sie nicht
nur in allen Hausarbeiten tüchtig, wußte nicht nur in schwierigen
Lebenslagen Rat, sondern hatte etwa achtzig Märchen und über
hundert Lieder im Kopf."
Diese Achtung vor den Menschen war es auch, die ihn sagen ließ:
,,Du bist als Lehrer nicht dem Staat gegenüber verantwortlich,
sondern den Kindern und ihren Eltern." Und das in Zeiten, in denen der
Staat Alleinherrscher war über das gesamte Erziehungswesen. Prof.
Tietz hat im Laufe seines 80 jährigen Lebens mehr als ein politisches
Regime kommen und gehen sehen. Er war den Nationalsozialisten nicht ganz
geheuer und den Kommunisten erst recht nicht, obwohl er weder Held noch
Märtyrer sein wollte und war. Aber er war auch kein Angepaßter.
Einmal traf ich bei ihm Marie Hromadka. Als sie gegangen war, sagte er:
,,Seit ihr Mann im Gefängnis ist, wollen die früheren Freunde
nichts mehr mit ihr zu tun haben. Sie ist so allein. Wir kümmern uns
ein bisserl um sie."
Prof. Tietz war als Lehrer Teil einer Gemeinschaft, der er verbunden
war und der er sich verpflichtet fühlte zu geben, was ein Mann seines
Standes geben kann: Bildung. Er war Kulturarbeiter im besten Sinne des
Wortes. Ob uns als Schüler bewußt war, was wir an ihm hatten?
Ich glaube nicht. Der junge Mensch lebt sein Leben, er reflektiert es nicht.
Gewiß, wir waren dankbar für das, was er uns bot, und freuten
uns darüber, aber weiter dachten wir damals kaum. Erst als wir anfingen,
den Blick nicht nur nach vorne zu richten, sondern auch zurück auf
das, was war, was unseren Geist, unseren Charakter geformt hat, wurden
wir uns seines Einflusses auf uns bewußt. ,,Tietz vertrat die Ansicht,
daß ein guter Fachmann genau so wertvoll ist wie ein Studierter.
Das und alles, was wir im Wandervogel erlebt und geleistet haben, hat alle,
die damals dabei waren, fürs ganze Leben geprägt", sagte der
80 jährige Koloman Stieger; in den 20er Jahren Mitbegründer des
Reschitzaer Wandervogels. Und der Journalist Georg Hromadka, ein Schüler
und Freund, hat 1978 am Grabe von Alexander Tietz eine ergreifende Rede
gehalten und ,,im Namen der Schüler, Freunde und Landsleute unserem
Schandi warme Worte des Dankes" gesagt, wie Erich Lang in der ,,Banater
Post" schrieb. Als ich Hromadka um das Manuskript der Rede bat, sagte er:
,,Ich habe keins. Ich hatte nicht die Absicht, eine Grabrede zu halten,
da ich wußte, daß von offizieller Seite andere damit betraut
worden waren. Aber als die dann gesprochen hatten und diese Reden so unpersönlich
waren, so gar nichts von dem sagten, was Tietz für uns war, da mußte
ich einfach reden. Das war ich ihm schuldig." Und Erich Lang berichtete
weiter:
,,Obwohl Zeremonie und alles Offizielle vorüber waren, mochte
die Trauergemeinde nicht auseinandergehen. Da stimmte jemand die Strophe
,Nun Brüder ein gute Nacht' an, und fast alle Anwesenden sangen halblaut
mit." Nein, auch die Arbeit des Lehrers Alexander Tietz ist nicht meßbar,
nicht wägbar, aber in jenem Abschied an seinem Grabe wurde etwas von
dem erkennbar, was seine Arbeit als Lehrer bewirkt hat. Gesinnung wurde
Tat, wurde Leben.
Über die Grenzen seiner Heimat hinaus bekannt wurde Tietz jedoch
nicht als Lehrer, sondern als Volkskundler. Seine Sammlung von Märchen,
Sagen, Geschichten, Gedichten aus dem Banater Bergland ist im Laufe vieler
Jahre entstanden. Bergleute und Hirten, Wald- und Werkarbeiter, aber auch
Beamte und Handwerker haben sie ihm erzählt, Männer und Frauen,
Deutsche vor allen, aber auch Rumänen. Seine Bücher (Sagen und
Märchen aus den Banater Bergen, 1956; Das Zauberbründl, 1958;
Wo in den Tälern die Schlote rauchen, 1967; Märchen und Sagen
aus dem Banater Bergland, 1978) waren das, was man hier Bestseller nennt.
Sie waren bald nach ihrem Erscheinen vergriffen. Sie stehen in den Bücherregalen
vieler Banater Berglanddeutscher. Und sie brachten Alexander Tietz wohlverdiente
Anerkennung in Fachkreisen - in Rumänien, aber auch in Deutschland.
Er wurde Mitglied des Schriftstellerverbandes, und in der Fachzeitschrift
,,Deutsches Jahrbuch für Volkskunde" der Akademie der Wissenschaften
zu Berlin wurde seine Arbeit gewürdigt ebenso von dem namhaften Freiburger
Volkskundler Dr. Johannes Künzig, um nur die bedeutendsten Anerkennungen
zu erwähnen.
Wie gehen wir mit dem Erbe des Volkskundlers Alexander Tietz heute
um? Für uns hier ist es ein Teil unserer Banater Identität. Und
in der alten Heimat? Erwin J. Tigla, der Leiter des deutschen Kulturvereins
in Reschitz, bemüht sich in beeindruckender Weise und auch mit beachtenswertem
Erfolg, die Erinnerung an Alexander Tietz im Bewußtsein der Öffentlichkeit
zu bewahren. Daß dies nur gelingen kann, wenn auch an Banater Kulturgeschichte
interessierte Rumänen dafür gewonnen werden können, weiß
Tigla. Nachdem der Versuch, das Lyzeum Nr.4, das eine deutsche Abteilung
hat, nach Alexander Tietz zu benennen, gescheitert war, zeigte man sich
bereit, der deutschen Abteilung der Kreisbibliothek ,,Paul Iorgovici" den
Namen ,,Alexander Tietz" zu verleihen. Diese Abteilung, deren Leiter Tigla
hauptberuflich ist, hat 1996 ein schmales Heft herausgebracht mit dem Titel
,,Pe urmele lui Alexander Tietz" (Auf den Spuren von A.T.). Es enthält
biographische Daten und eine Bibliographie der Veröffentlichungen
von und über Tietz, zusammengestellt von Tiberiu Chis. Beiträge
von Gh. Cramanciuc, dem Direktor der Kreisbibliothek, von Victoria Bitte
und Sergiu Stefanescu, in denen Tietz' Schaffen gewürdigt wird, ein
Gespräch, das Ion Crisan 1973 mit Tietz geführt hat sowie einige
der von Tietz gesammelten Texte in der rumänischen Übersetzung
von Schülern des Lyzeums Nr.1 unter der Anleitung ihres Lehrers Valeriu
Untea. Es sind meines Wissens die ersten Übersetzungen ins Rumänische.
Übersetzungen in Buchform gibt es bisher keine. Warum? Dieser Frage
nachzugehen dürfte nicht uninteressant sein.
Zweifelsohne hat Alexander Tietz mit seinen volkskundlichen Sammlungen
dem Banater Bergland und seinen Menschen ein bleibendes Denkmal gesetzt.
Doch ein Denkmal muß wahrgenommen werden, um zu wirken, sowohl hier
wie dort, wo Tietz gelebt und gewirkt hat.
Anläßlich des 100. Geburtstages von Prof. Tietz legten Mitglieder
des Reschitzaer Kultur- und Erwachsenenbildungsvereins an seinem Grab einen
Kranz nieder.
Auch in Veranstaltungen des Vereins wird seiner gedacht. Da Prof. Tietz
bekanntlich keine Kinder hatte und auch keine nahen Verwandten in Reschitz,
die sich um das Grab kümmern könnten, - seine zweite Frau Traute
ist nach langer Krankheit im Dezember 1997 verstorben, - will der Kulturverein
sich der Grabpflege annehmen. Das Grab wird im Frühjahr instandgesetzt.
Viele der ehemaligen Schüler von Prof. Tietz leben heute in Deutschland.
Wer von ihnen sich an der Instandhaltung seiner letzten Ruhestätte
mit einer kleinen Spende beteiligen möchte, kann dies durch eine Überweisung
auf das Verbandskonto tun. Bitte unbedingt als Verwendungszweck ,,Tietz"
angeben. Der Bundesvorstand des Heimatverbandes wird die eingegangenen
Spenden an den Kulturverein in Reschitz weiterleiten.
Alexander Tietz. Biographische Daten:
geboren am 9. Jänner 1896 in Reschitz
der Vater: Josef Tietz, Sohn des Temeswarer Lehrers Franz Tietz die
Mutter: Therese, Tochter des Adolf Diaconovici, gehört einer Familie
an, aus der bedeutende Persönlichkeiten des rumänischen Kulturlebens
im Banat hervorgingen (C. Diaconovici-Loga, Corneliu Diaconovici)
Besuch der Volksschule in Reschitz
Besuch des Gymnasiums in Temeswar (1908-1916)
Germanistikstudium in Budapest und Klausenburg (1916-1922) Hilfslehrer
in Reschitz (suplinitor) (1920-1923)
Hauptamtliche Lehrtätigkeit als Gymnasialprofessor (1923-1959)
Gründer des Wandervogels
Mitarbeit an verschiedenen deutschsprachigen Zeitungen, gelegentlich
auch an rumänischen, in der Zwischenkriegszeit hauptsächlich
an der ,,Reschitzaer Zeitung"; nach dem Krieg Beiträge im ,,Neuen
Weg" u.a. veröffentlicht. Sammelt in den 40er und 50er Jahren Arbeiterfolklore
im Banater Bergland, die zwischen 1956-1978 in 4 Büchern veröffentlicht
wird.
Gestorben am 10. Juni 1978 in Reschitz nach einem Verkehrsunfall.
EZurück zur Übersicht