Hinter den sieben Bergen...
Nachdem wir unser Zelt am Cinis See abgebaut hatten, beschlossen wir,
nach Osten weiterzureisen, durchs transsilvanische Gruselland Draculas.
Doch die Vampire sowie die von bösen Räubern und Geistern bewohnten
Urwälder suchten wir vergebens. Wahrscheinlich hat sogar sie Ceausescus
Wunderwirtschaft aus dem Land vertrieben. Zurückgeblieben sind Orte,
deren Namen zwar gut klingen, die aber nicht so aussehen. Ob Mühlbach,
Grossau, Hermannstadt, Schäßburg, Birthälm oder Honigberg,
alle haben sie eines gemeinsam, sie sehen auch tagsüber aus wie unsere
Fußgängerzonen nach Ladenschluß: verlassen, grau, unwirtlich.
Die wenigen Menschen, die durch die verwinkelten mittelalterlichen Straßen
huschen, haben einander nichts mehr zu erzählen. Ihre Kinder, Freunde,
Verwandten und Bekannten sind schon längst über die sieben Berge
Siebenbürgens in den Westen gezogen. Es ist schön in Siebenbürgen,
wenn man als Tourist kommt und wieder gehen kann.
Auch wir ziehen weiter, besuchen die herrlichen Orte der Südkarpaten
rund ums königliche Schloß Peles, fahren noch einmal in Richtung
Norden, nach Kronstadt, der heimlichen Hauptstadt Siebenbürgens, überqueren
die Ostkarpaten in Richtung Dobrudscha. Wir verlassen den majestätischen
Bogen der Karpaten. Die Landschaft ändert sich, wird flach. Wir nähern
uns der Lebensader Osteuropas, der Donau. Im Schwarzwald, bei uns zuhause
um die Ecke, entspringt sie als kleines Bächlein. Über mehrere
tausend Kilometer wird sie zum Strom, der Freud und Leid mit den Anrainerstaaten
teilt, die Geschichten ihrer Völker sammelt, und bevor er sich mit
den dunklen Fluten des Schwarzen Meeres vereint, seine schwere Last im
Donaudelta ablegt. Hier schlagen wir unser Zelt auf am Rande einer Lagune
und lauschen den Geschichten, die der alte Danubiüs abends den Vögeln
erzählt. Von der idyllischen Stille einer fast unberührten Natur
zieht es uns nach Süden zu den bekannten Badeorten an der Schwarzmeerküste.
Menschenmassen, stinkende Blechkisten auf vier Rädern sowie Unmengen
an Müll vertreiben uns von der rumänischen ,,Costa del sol” weiter
nach Süden in Richtung Bulgarien. Wir kommen durch bitterarme Gegenden,
wie wir sie nur in Afrika oder Zentralasien vermutet hätten. Irgendwie
drückt das auf die Urlaubsstimmung. Genug gesehen vom Hinterland,
finden wir. Die Hauptstadt lockt. Wegen ihres besonderen Flairs einst ,,Paris
des Ostens” genannt, treffen wir außer der Hitze des Baragan nicht
viel Ansprechendes. Die einstige Lebensader der Stadt, die Leipziger Straße,
besser bekannt als Lipscani, ist eine trostlose Ansammlung von verwahrlosten
alten Gewerbehäusern. Die ehemaligen Besitzer enteignet, die Händler
vertrieben. Man brauchte Platz für weitere architektonische Großtaten
des Titanen der Titanen. Heute haben Obdachlose und Zigeuner die leerstehenden
Wohnungen besetzt. Auch neun Jahre nach Ceausescu weht dessen Geist immer
noch durch die zubetonierte, verschandelte Altstadt. Schattige Cafés,
schnucklige Gaststätten oder gar Biergärten - Fehlanzeige. Wir
sitzen in einem lauten und staubigen Lokal direkt an der sechsspurigen
Hauptverkehrsstraße und verzehren die obligate Pizza. Was sonst?
Da höre ich aus Kindermund: ,,Papa, komm laß uns zum Franzdorfer
See fahren und zu Rolly!” Meine Frau nickt zustimmend: ,,Ja, laß
uns weiterfahren. Ich freu mich schon aufs Banat!” Und das nicht von mir,
sondern aus den Kehlen von drei geborenen Bundesbürgern! Heimlich
hatte auch ich mich danach gesehnt, nach der vertrauten und heilen Umgebung
meiner Heimatstadt Reschitz. Ich wollte mir den nostalgischen Anfall nur
nicht eingestehen. Wir verlassen unsere vornehme Herberge, den Hanul lul
Manuc, um wieder mit den eigenen vier Zeltwänden vorlieb zu nehmen.
Ein Stein, so groß wie die versunkene Insel Ada-Khaleh, fällt
mir vom Herzen, als ich das silberne Band der Donau im Gegenlicht erkenne.
Am Eisernen Tor fühle ich mich bereits wie zuhause. Wir beschließen,
dem Fluß zu folgen und verlassen bei Orschowa die Europastraße
94, um nach Neumoldowa zu gelangen. Die schmale, in den Fels gehauene Straße
hat es in sich. Schon der römische Kaiser Traian nutzte sie, um seine
Legionen gegen die widerspenstigen Daker in verlustreiche Kriege zu führen.
Über Jahrhunderte einte und trennte der Fluß die Völker
der Gegend in Furcht vor Angreifern. Wandervölker, Türken, Österreicher,
Ungarn, Serben, Kroaten, Rumänen, sie alle tränkten diese Erde
mit dem Blut unschuldiger Einwohner und verreckter Krieger. Vor zehn Jahren
noch war dieses Gebiet eine militärische Sperrzone, ein Todesstreifen,
ähnlich der deutsch-deutschen Grenze. Was für ein Gefühl,
jetzt hier frei herumfahren zu können! Beeindruckend der grandiose
Kasan-Paß. Ich stelle unser Zelt auf einer kleinen Landzunge auf,
direkt am Donauufer, und erzähle meinen mit großen, staunenden
Augen zuhörenden Kindern von der Zeit, als hier Menschen erschossen
wurden, nur weil sie den Weg in die Freiheit suchten. Die Sonne versinkt
hinter den steilen Klippen, wirft gespenstische Schatten auf die Wellen
des Stroms und läßt uns wie stumme Statisten verharren. Plötzlich
unterbricht die Stimme meines Sohnes die Stille: ,,Papa, was ist da drüben
für ein Land?” ,,Serbien”, erwiderte ich. ,,Ist das das Serbien von
dem in der Tagesschau die Rede ist? Wo sich die Leute umbringen?” will
meine Tochter wissen. In die Realität zurückgeholt, erwidere
ich: ,,Ja, leider, das ist es”. In Gedanken versunken, verkroch ich mich
ins Zelt, als meine Frau mich kurz ansah und meinte: ,,Gib doch den Grenzlern
da hinten etwas von unserem Schnaps ab”. Ach ja, die gab es ja noch. Aber
anders als früher zielen ihre Gewehre nun nicht mehr auf die Menschen,
die es ans Donauufer zieht. Die Burschen bedankten sich erfreut und versicherten
uns, auf unser Nachtlager besonders gut aufzupassen, damit auch kein Schmuggler
unsere Nachtruhe störe. Derart beschützt, sanken wir in einen
tiefen, festen Schlaf.
Fortsetzung folgt.