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Gedenkmesse zum 55. Jahrestag der Deportation
von Hans Wania
 
Denkmal für die Russlanddeportierten in Reschitz Auch in diesem Jahr fand in der St.-Peters-Kirche in München ein Gedenkgottesdienst statt. Eine stille Hl. Messe vereinte in Gebet und Besinnung unsere in München und Umgebung lebenden Bergländer. Passend zum Anlass die Worte des Predigers, eine Warnung aus dem Mathäusevangelium, nicht zu zerstören, denn Wiederaufbau ist immer schwierig und von langer Dauer. Die Säulen unserer Gemeinschaft, welche im Januar 1945 zerstört wurden, bleiben Trümmer für immer. Die Wunden, die damals jeder Familie geschlagen wurden, sind vernarbt, die Opfer von vielen verdrängt und vergessen, die Lücken, welche damals in unsere Reihen gerissen wurden, sind geblieben. Der Großteil einer Generation verschwand aus der alten Heimat, wurde in alle Welt zerstreut, die Folgegenerationen verbogen. 

Das Gedenken an die Opfer - Angehörige, Freunde, Landsleute - viele in fremder Erde begraben, in Sibirien oder in der Ukraine, viele kurz nach der Heimkehr qualvoll gestorben, bleibt uns Mahnung und Vermächtnis.

Erinnerungen an die Russlanddeportation vor 55 Jahren
Mein erstes russisches Wort: NAZAD
von Hans Wania

In den frühen Morgenstunden des 16. Januar 1945 begann in Reschitz die Aushebung der “arbeitsfähigen“ Volksdeutschen rumänischer Staatsangehörigkeit. In Schulgebäuden wurden die Verhafteten registriert untersucht und für den Abtransport vorbereitet. Am Hauptbahnhof waren dafür Viehwaggons auf allen Abstellgleisen aneinandergereiht.
Unter den Deportierten waren auch mein Vater und mein Bruder. Da sie überhastet und ohne Verpflegung unser Haus verlassen hatten, sandte mich meine Mutter mit einem Esskorb zur Sammelstelle. Als ich zu dem mir wohlbekannten Schulgebäude gegenüber der alten Post kam, standen davor zwei mit Maschinengewehren bewaffnete sowjetische Soldaten und achteten darauf, dass niemand den Gehsteig betrat. Eine Menschen-Traube aus Angehörigen hatte sich am Rande des Gehsteigs gebildet, Alte, Frauen mit Kindern auf dem Arm, Jugendliche wie ich. Die Menschen draußen versuchten, sich mit jenen drinnen, die sich an den Fenstern zeigten, zu verständigen, oder den Personen, die ins Gebäude geführt wurden, Speisen, Getränke und sonstige Gebrauchsgegenstände für ihre Angehörigen mitzugeben. Die Sowjetsoldaten - Angehörige einer Spezialeinheit mit hellblauen, rot umrandeten Schulterklappen
- drängte die Menschenmasse immer wieder zurück und riefen dabei: NAZAD! Was das bedeutete, sollte ich erst viel später erfahren. Dieses Erlebnis habe ich auch heute nach 55 Jahren noch in bester Erinnerung. Ich werde es nie vergessen. Nach stundenlangem Warten gelangte auch mein Esskorb mit einer Nachbarin in das Innere des Schulgebäudes, damals ein Gefängnis für unsere Angehörigen. Meinen Vater habe ich damals nicht mehr gesehen. Er wurde zusammen mit meinem sechzehnjährigen Bruder mit dem ersten aus Reschitz abgehenden Transport bei klirrender Kälte 4000 Kilometer weit weg in den Ural verschleppt. Da man ihn nach Deutschland entlassen hatte, führte sein Heimweg nach dreieinhalb Jahren über Zonengrenzen und durch fünf Länder - bis zur rumänischen Grenze. Hier wurde er wegen “illegalen“ Grenzübertritts verhaftet und kam in das berüchtigte Gefängnis vor Oradea, wo er fünf Monate einsaß, ehe eine Amnestie die Heimkehr zur Familie ermöglichte.
Meinen Bruder haben wir nicht wiedergesehen. Er starb, noch minderjährig, an Unterernährung wie viele Tausende seiner Leidensgenossen. Um bei der Beerdigung seines Sohnes dabei zu sein, musste mein Vater sich als Totengräber betätigen. Der Grabhügel wurde wie die aller in Berezovsk verstorbenen Deportierten noch vor Auflösung des Lagers eingeebnet.
Das russische NAZAD (deutsch: zurück) hat sich bei mir gut eingeprägt. Im Laufe der Jahre habe ich mir unzählige Male geschworen, es zu erfüllen. Es sollten aber noch 28 Jahre vergehen bis es mir gelang, dem kommunistischen Machtbereich
zu entkommen. Es war ein sonderbarer Zufall: An einem 16. Januar kehrte ich “zurück“ in das Land meiner Urgroßeltern, in die Freiheit.
 

Der fremde Mann
von Anton Schulz

Ich wurde zwei Wochen nach der Deportation meines Vaters geboren. Meine Mutter musste bald danach arbeiten gehen, um den Unterhalt für uns zu verdienen. Da ich keine Großeltern mehr hatte, musste meine Schwester mich täglich in die “cresä“ bringen, bevor sie zur Schule ging. Das Haus, in dem der Kinderhort untergebracht war, befand sich oberhalb der Beton-Schule, gegenüber vom Eingang zum Josefinenpark. Nach der Schule holte mich meine Schwester ab. Sie passte auch auf mich auf, wenn meine Mutter Überstunden machen musste.
Mein Vater hat erst spät erfahren, dass er einen Sohn hat. Es dauerte Monate, bis wir von ihm Post erhielten. Als mein Vater nach Hause kam, spielte ich gerade im Hof. Er rief meinen Namen, doch ich lief zu meiner Mutter, die damals gerade zu Hause war, und sagte: “Ein fremder Mann ist da und ruft meinen Namen.“ Bald darauf begann mein Vater zu arbeiten, und meine Mutter blieb zu Hause. Ich musste nicht mehr in die “cresä“.

Verstecken half nicht
von Christian Gitzing

Mein Vater war seit April 1943 in der deutschen Armee. Seine Einheit kämpfte in Russland. Wir hatten schon lange keine Nachricht von ihm. Es war 1945, kurz vor meinem 9. Geburtstag. Draußen war eine grimmige Kälte, und es lag viel Schnee. Im Dorf sprach sich herum, dass die Deutschen nach Russland deportiert werden. Mit Tränen in den Augen hatte der Trommler verkündet: “Alle Männer zwischen 17-45 und die Frauen zwischen 18-35 Jahren müssen sich in der Schule melden.“ Ein Lastwagen mit russischen Soldaten kam in den Ort. Die erste Gruppe wurde am 14. Januar abtransportiert.
Etwa 60-70 Personen hatten sich versteckt. Sie glaubten, so der Deportation zu entkommen. Unter ihnen war auch meine Mutter. Aus Angst hatte sie mit mir unser Haus verlassen und war zu ihren Eltern gegangen. Als Versteck diente ihr tagsüber die Fleischkammer, vor deren Tür ein Kleiderschrank geschoben wurde.
Der Gemeindediener, der vermutete, dass meine Mutter bei ihren Eltern Unterschlupf gefunden hatte, kam wiederholt ins Haus und sagte, dass meine Mutter sich stellen soll. Auch die Gendarmen kamen. Besonders schlimm war es für mich, als sie nachts ans Fenster klopften und das Haus durchsuchten. Mutter war durchs Fenster in den Garten geflüchtet. Ich lag zitternd im Bett, und als der Soldat mich fragte, wo meine Mutter sei, antwortete ich, was man mir eingedrillt hatte: "Ich habe sie schon eine Woche nicht gesehen.“ Ich hörte immer wieder, dass die Leute befürchteten, von den Soldaten erschossen zu werden. Ich wusste nicht, was Deportation ist. In meinen Angst-Phantasien stellte ich mir vor, dass meine Mutter erschossen wird, wenn sie sie finden.
Der Druck wurde von Tag zu Tag stärker. Man drohte den Leuten, dass die alten Eltern statt der Versteckten deportiert werden. Doch da war noch etwas: Die Angehörigen der bereits Deportierten verlangten von den Behörden Gerechtigkeit. Schließlich wurden fast alle Versteckten ausgehoben, auch meine Mutter.
Wir hörten lange Zeit nichts von ihr. Als der erste Transport mit Kranken und Arbeitsunfähigen im Spätherbst 1945 zurückkam, erfuhren wir zum ersten Mal Näheres über das Leben der Deportierten. Mit einer Bekannten hatte meine Mutter aus Russland ein Geschenk für mich mitgeschickt. Es waren zwei Aluminiumlöffel, die wie kleine Schöpflöffel aussahen. Auf dem einen war mein Familienname, auf dem anderen mein Taufname eingeritzt. Die Löffel habe ich bis zu meiner Aussiedlung 1991 aufbewahrt.

Abgeführt wie ein Verbrecher
von Herta Drozdik-Drexler

Da mein Vater als Kind bei einem Unfall ein Auge verloren hatte, wurde er nicht zum Militärdienst eingezogen. Er glaubte daher im Januar 1945, dass er auch nicht nach Russland deportiert werde. Die Tatsache, dass er nicht ausgehoben wurde, als die Deportation in unserer Straße begann, bestärkte ihn in dem Glauben. Dass die Leute abgeführt wurden, bedrückte ihn sehr. Er versuchte zu helfen, so gut er konnte. Er hatte damals eine gut gehende Bäckerei, und so fuhr er Brote zum Bahnhof, um sie an die Leute zu verteilen, die man dort in die Viehwaggons pferchte.
Die großen Transporte waren bereits abgefahren, da hieß es, dass erneut Leute in die Betonschule gebracht werden. In Hausjacke und Pantoffeln machte er sich auf den Weg zu dem nahe gelegenen Gebäude, um nachzusehen, was an dem Gerücht dran war. Das wurde ihm zum Verhängnis. Von der Straße weg brachte man ihn in einen der unteren Klassenräume. Meine Mutter befiel alsbald ein ungutes Gefühl. Sie wollte nachsehen, was geschehen war, doch meine Großeltern hielten sie davon ab, weil sie nicht zu Unrecht befürchteten, dass man auch sie einsperren könnte. So wurde ich zur Schule geschickt, um nachzusehen. Ich war damals sieben Jahre alt, kannte das Gebäude, da ich im Herbst dort eingeschult worden war. Vor dem Eingang stand ein Soldat mit geschultertem Gewehr. Er ließ mich ins Gebäude hinein. Ich erinnere mich noch an den Klassenraum im Erdgeschoss mit den großen Fenstern, durch die die Sonne schien. Er war voller Menschen, die alle durcheinander redeten. Es war eine ungewöhnliche Atmosphäre - voller Aufregung und Angst. Ich fand schließlich meinen Vater, aber er durfte nicht mit mir nach Hause gehen. Etwas später kam er dann in Begleitung eines Soldaten. In Eile zog er sich um, während meine Mutter ihm einen großen Rucksack vollpackte. Er verließ das Haus nicht durch den Haupteingang, der auf die Hauptstraße führte, sondern durch den Hinterausgang in Richtung Graben. Ich sehe ihn noch heute die Treppe hochgehen, in seiner dunklen Winterjacke, den Rucksack auf dem Rücken, den Akkordeonkoffer in der
linken Hand, rechts neben ihm der Soldat mit geschultertem Gewehr. Dieses Bild, auch wenn ich lange nicht daran denke, ich habe es nicht vergessen, ich sehe es immer deutlich vor mir, wenn von der Russlanddeportation unserer Landsleute die Rede ist. Ich verstand als Kind nicht was damals geschah, aber ich fühlte, dass es etwas Schreckliches war.
Mein Vater hatte Glück im Unglück. Da er einen Führerschein besaß, musste er nicht im Bergwerk arbeiten, sondern als Schofför. Abends machte er öfter zusammen mit einigen Freunden für die russischen Offiziere und ihre Frauen Musik. Er lernte schnell so viel russisch, wie er brauchte. Bereits im Herbst 1945 kehrte er mit dem ersten Transport zurück — ohne Winterjacke und Akkordeon, ohne die Taschenuhr, die mein Großvater ihm geschenkt hatte, ein Erinnerungsstück an vierzigjährige Werkszugehörigkeit.
Wenige Tage später erkrankte er an einer schweren Gelbsucht. In Russland hätte er die nicht überlebt.
 

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