Folge 96, Januar-Februar 2001

Die kleine Schweiz von Reschitz
von Marius Barbu

Es ist viele Jahre her. Mit einem Freund, der nach Reschitz zugezogen war, unternahm ich einen Ausflug auf den Neuen Driglovetz. Gemächlich stiegen wir den Weg durch die Budinic, die jetzige Kogalniceanu Straße,  bergan und folgten der Straße, die in Serpentinen den Hang hochführt. Als wir aus dem Wald auf die große Wiese traten, lagen die Häuser der Bergsiedlung im Sonnenlicht vor uns. "Das sieht ja aus, wie ein Dorf in der Schweiz", sagte mein Freund. Er war von dem Landschaftsbild begeistert, das sich unseren Augen bot.

Ich war schon oft auf dem Driglovetz, aber dieser Vergleich war mir nie in den Sinn gekommen. Der Driglovetz, das war unser Hausberg. Der Name ist slawischen Ursprungs, erfahren wir von Alexander Tietz. Eigentlich heißt es "tri glovetz" (drei Köpfchen). Daß es nicht nur einen "Driglovetz" gibt, das wissen die alten Reschitzer. Doch wie das oft mit Orten ist, die man gut kennt, man macht sich kaum Gedanken über ihre Namen und nimmt die nur ihnen eigene Schönheit kaum mehr wahr. Jetzt aber sah ich den Driglovetz mit den  Augen des Freundes. Und mir war, als sähe ich den mir wohlbekannten Ort zum ersten Mal. Ich hatte die Schweiz noch nie gesehen. Aber ich konnte mir gut vorstellen, daß die Häuser in den Alpen ebenso wie hier den Berg emporklettern. Die Menschen, die sich am Berghang Häuser bauen, entfliehen der Enge des Tals und dem Lärm der Stadt. Sie sind hier oben der Natur näher. Und vielleicht ist so ein Haus am Berg auch ein Stück Freiheit.

Die Namen jener Hausbesitzer erinnern an das bunte Völkergemmisch der alten Habsburger Monarchie: Prohaska, Trestian, Hrabak, Marx, Orz, Kuhn, Frincu oder Sandor und noch manch andere. Ein steiniger Weg führt an ihren Häusern vorbei nach oben. Steine am Straßenrand fangen das Erdreich auf und bilden so etwas wie Stufen an den Häusern entlang. Die Straße zwischen den Häusern ist eigentlich gar keine Straße. Es ist ein breiter Erdweg, in den der Regen immer neue, tiefe Furchen reißt. Mit einem Auto kann man hier nicht hochfahren. Um so mehr überrascht es, am Ende der  Siedlung, hoch oben auf Berg zwei schöne Bauten zu finden: das Gutjahrsche Haus war mit seinen Esslinger Rolläden und dem Balkon ein moderner Bau, als es errichtet wurde. In den 50er Jahren hat Professor Tietz, der Volkskundler, dort gewohnt. Das Jendlsche Haus, das letzte in der Reihe, ist eine schöne alte Villa in einem riesigen Garten.

Und das, obwohl das Leben hier oben kein bequemes war. Tag für Tag gingen die Leute den Weg zu Fuß zur Arbeit. Wasser mußte man vom Brunnen auf der Straße holen. Ein Eimer hing dort an der Kette, so konnte auch der Wanderer seinen Durst mit dem frischen Wasser löschen, das einer Quelle in der Tiefe des Berges entspringt. Zu jedem Haus gehört ein Garten, und den Leuten war es nicht zu viel, ihn nach einem harten Arbeitstag in der Fabrik und einem anstrengenden Fußmarsch nach Hause  zu hegen und zu pflegen.

Besonders anstrengend war der Weg im Winter. Aber gerade diese Jahreszeit verwandelte den Driglovetz in ein Paradies für Rodler und Skifahrer. In Scharen zogen  wir  als Kinder unsere Schlitten die Straße hoch. Von der Wiese, wo der Weg zum alten Driglovetz abzweigt, fuhren wir los, die Straße hinunter bis zur letzten großen Kehre - Reibung sagten wir dazu - am Haus von Wagner Rudi vorbei. Die Skigrößen der Stadt - die Geschwister Suciu, Letalik Rozsi, Trestian Marianne - sie alle waren Driglovetz-Kinder. Auf dem Driglovetz standen sie zum ersten Mal auf Brettern, dort lernten sie Skifahren, ehe sie auf dem Semenik und andernorts an Wettberwerben teilnahmen und Medaillen gewannen.

Auf der Wiese vor der Siedlung gab es in den Jahren des kommunistischen Regimes alljährlich am 1. Mai und am 23. August ein Volksfest. Nach dem obligatorischen Aufmarsch strömten die Reschitzer hierher, wo an Bretterbuden Eßbares angeboten wurde - Krenwürste und Mici - zuletzt eine Seltenheit, die es fast nur noch an den nationalen Feiertagen zu kaufen gab.  Am Tag danach war die Wiese übersät mit Müll. 

Für Kinder hatte man Schaukeln und Ringelspiele aufgestellt. Ob sie heute noch dort stehen? Sie rosten wohl vor sich hin, wie so manches in der Altstadt und im Werk. 

Uns Reschitzern aus der Altstadt hatte der Driglovetz in jeder Jahreszeit etwas zu bieten. Da war der Alte Driglovetz. Die Siedlung liegt versteckt im Wald. Ein Fußweg führte von der Wiese durch den Wald zu den Häusern der Familien Letalik, Richter, Chermeleu, Babiak.... Im Frühling versanken sie im Blütenmeer ihrer Obstgärten. Kirschen, Äpfel, Aprikosen und Pfirsiche verströmten im Sommer ihre Düfte. Den köstlichen Verlockungen war kaum zu widerstehen. Der Herbst färbte die Blätter bunt. An milden, sonnigen Tagen genossen wir als  Ausflügler die Farbenpracht. 

Ich schließe die Augen und sehe die kleine Kapelle. Die Familie Petzak hat sie einst errichtet. Ein Ort, der an das göttliche Geheimnis mahnt, wo fromme Frauen  Blumen niederlegten und zu Gott beteten.

Was ist aus all dem geworden? Das Gutjahrsche Wirtshaus gibt es schon lage nicht mehr. Die Jahre sind an dem Haus nicht spurlos vorübergegangen. Es ist dem Verfall ebenso preisgegeben wie die imposante Jendlsche Villa.  Meine Phantasie zaubert. Sie läßt mich Frau Richter begegnen, der ehemaligen Briefträgerin des Viertels. Sie, die  längst ihren letzten Weg ins Jenseits gegangen ist, steht vor mir und sieht  mich  traurig an. "Wer von den alten Bewohnern lebt noch hier?" frage ich. "Keiner", antwortet sie, "aber ich gehe den Weg aus Gewohnheit."

  
   

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